Verworrene Gefühle
Kapitel 1
Suchend lässt Pfiffi ihren Blick den Gang entlang schweifen, doch sie kann Katrin nirgends sehen, dafür sieht sie Frau Kluge auf sich zukommen. „Wir landen gleich und da will ich mich schon mal von dir verabschieden. Du verschwindest immer so schnell.“ Es klingt wie ein leichter Vorwurf. „Ich will dir unbedingt noch einmal sagen, dass du nächstes Jahr gern wieder mitkommen kannst.“
„Tut mir leid, aber nächstes Jahr kann ich die gesamte Saison an der Ostsee arbeiten.“ Kurz zuckt Pfiffi mit den Schultern. Das war das zweite Mal, dass sie mit dem Jugendverein nach Spanien gefahren ist und dort Schwimm- und Tauchunterricht erteilte. Das Wetter war fantastisch und sie konnte die meiste Zeit des Tages am Wasser verbringen und die Arbeit in der Küche, die sie nebenbei noch erledigen musste, war nicht der Rede wert. Im Großen und Ganzen hat es ihr sehr gut gefallen, aber das sind nur drei Wochen und da verdient sie nicht viel. Eine ganze Saison an der Ostsee bringt ihr wesentlich mehr ein. „Ich verstehe dich ja.“ Ein bedauerndes Lächeln zieht über Frau Kluges Gesicht. Sie öffnet leicht ihren Mund, doch bevor ein Wort über ihre Lippen kommt, schließt sie diesen schnell wieder und wendet sich hastig ab. Still sieht Pfiffi ihr hinterher. Sie weiß genau, was Frau Kluge sagen wollte, doch genau wie alle anderen Bewohner ihrer kleinen Stadt schweigt sie. Keiner sagt etwas, keiner will sehen, was los ist, alle wollen nur die schöne heile Welt sehen. „Du glaubst nicht, wer mir eben über dem Weg gelaufen ist.“ Katrins laute Stimme reißt Pfiffi aus ihren Gedanken. „Das ist mir auch egal, setz dich lieber hin und schnall dich an, wir landen gleich.“ Energisch zieht Pfiffi Katrin auf ihren Platz. „Ja, ja“, mault Katrin kurz und lässt sich auf ihren Platz fallen. Sobald Pfiffi dafür gesorgt hat, dass Katrins Gurt geschlossen ist, schließt sie auch ihren. „Pfiffi, jetzt rate schon, wer mir begegnet ist.“ Aufgeregt will Katrin nach Pfiffis Hand greifen, doch sofort hat Pfiffi ihre Hand zurückgezogen. „Also gut, ich verrate es dir auch so.“ Mit großen Augen sieht sie Pfiffi an und dann platzt es aus ihr heraus: „Jerry!“, schreit sie auf. Verständnislos sieht Pfiffi sie an. „Mensch Pfiffi, Jerry! Jerry von den ‚City Freaks’, sie sind alle vier im Flugzeug, vorn in der ersten Klasse.“ Während Katrin übers ganze Gesicht strahlt, sieht Pfiffi sie skeptisch an. Das kann nicht sein. Ihre Lieblingsband kann unmöglich im gleichen Flugzeug sitzen. Ja, zurzeit sind sie auf Europatour und wollen irgendwo ein Überraschungskonzert geben, doch Pfiffi hat keine Ahnung, wann und wo das Konzert stattfinden soll. Vor drei Wochen war der Termin noch nicht bekanntgegeben und in Spanien hatte sie keine Möglichkeit, an diese Informationen zu kommen.
„Ha, jetzt bist du sprachlos und soll ich dir noch was sagen, ich werde Jerry nachher noch mal sehen. Soll ich ihn nach einem Autogramm für dich fragen?“ Schelmisch zwinkert Katrin ihr zu. „Vielleicht kann er dir ja auch eins von Alex besorgen.“ Während Katrin weiterplappert, greift Pfiffi ihr Basecap und drückt es fest an sich. Vor drei Jahren war sie das erste Mal auf einem Konzert und da warf Alex dieses Basecap von der Bühne und sie hatte es gefangen und nicht wieder hergegeben. Seitdem ist es ihr ständiger Begleiter. „Du, Pfiffi“, unsanft rempelt Katrin sie an, „mein Vater hat doch gesagt, dass du heute noch auf einem Konzert Getränke verkaufen sollst, ich wette, das ist das Konzert von ‚CF’. Jerry hat mir erzählt, dass sie heute ihr letztes Konzert geben und dann wollen sie Urlaub machen.“
Nach außen tut Pfiffi gleichgültig und zuckt gelangweilt mit den Schultern. Doch innerlich ist sie total aufgeregt, denn es ist gut möglich, dass sie nachher noch auf ein Konzert ihrer Lieblingsband gehen wird, wenn auch nur zum Arbeiten.
„Tu nicht so uninteressiert, ich kenn dich besser.“ Lachend stößt Katrin ihr in die Rippen.
Kaum ist das Flugzeug gelandet, geht bereits das Gedränge los, jeder will als Erster raus und Katrin hat es ganz besonders eilig. „Katrin, wo willst du hin? Dein Vater wartet auf uns“, ruft Pfiffi ihr hinterher. „Wir treffen uns am Auto“, hört sie Katrin rufen und dann ist sie verschwunden. Das ist wieder einmal typisch, Katrin sieht einen Kerl und haut ab und sie darf sich jetzt allein um alles kümmern. Genervt wirft sich Pfiffi ihren Rucksack über die Schulter und geht weiter zum Gepäckband, um die restlichen Sachen zu holen.
Bepackt mit ihren und Katrins Sachen steuert sie auf den Ausgang zu, plötzlich bleibt ein großer breitschultriger Kerl direkt vor ihr stehen. Pfiffi wäre fast gegen ihn gerannt. „Was soll’n das jetzt? Wenn du pennen willst, such dir ’nen anderen Platz“, mault sie ihn ärgerlich an und drängt an ihm vorbei, dabei stößt sie ihm unsanft eine Tasche ins Kreuz. Als der Typ sich zu ihr umdreht, erkennt sie ihn sofort. Oh Gott, das hat ihr gerade noch gefehlt, schießt es ihr durch den Kopf und dann eilt sie schleunigst davon.
Alex steht da und starrt dem kleinen Wesen mit Basecap und in viel zu großen Hip-Hopper-Hosen und zu langem T-Shirt verdutzt hinterher.
„Los, beeil dich. Der Wagen wartet bereits. Steve kümmert sich um unsere Sachen“, ruft Robby, greift Alex am Ärmel und zieht ihn weiter. „Was fällt dir ein, einfach so rumzustehen.“ Wie immer hat Robby sein schalkhaftes Grinsen aufgesetzt. Nichts, aber auch wirklich nichts kann ihm die Laune verderben.
Am Auto angekommen sieht Alex, wie Jerry, ganz in seinem Element vertieft, mit einem hübschen brünetten Mädchen schäkert. Alex traut seinen Augen kaum, denn neben der Hübschen steht doch tatsächlich der kleine Knirps von eben und drängt die Hübsche ins Auto. „Los, wir wollen ins Hotel“, wird Alex bereits von Brian weiter zu ihrem Auto gedrängt.
Noch bevor Pfiffi durch die Tür ist, sieht sie Katrin mit Jerry am Van ihres Vaters stehen und flirten. Sobald sie das Auto erreicht, drängt sie Katrin ins Auto und Jerry beachtet sie gar nicht. „Was ist denn mit dir los?“, mault Katrin sie an, doch ehe Pfiffi etwas sagen kann, meldet sich Katrins Vater zu Wort: „Großartig, dass ihr so schnell seid. Wir sind ein bisschen spät und müssen noch das Zelt aufstellen und die Getränke ausladen“, sagt er zu Pfiffi, erst danach wendet er sich an Katrin. „Ich freue mich, dass du wieder hier bist.“ Sanft haucht er ihr einen Kuss auf die Stirn. „Mama und Jürgen sind bereits dort und kämpfen mit dem Zelt. Heute ging alles ein bisschen Drunter und Drüber, aber wir werden das schon schaffen.“
„Das soll jetzt nicht etwa heißen, dass ich helfen soll?!“ Katrin sieht ihren Vater beschwörend an. „Ich war den ganzen Tag auf den Beinen, ich habe Hunger und bin müde.“
„Du brauchst nicht helfen und essen kannst du auch gleich. Wenn du müde bist, kannst du dich nachher ins Auto legen.“ Schmunzelnd sieht er Katrin an. „Dann verpasst du allerdings das Konzert, die Band soll ja ganz gut sein.“
„Welche Band?“, schreit Katrin los.
„City Freaks“, sagt ihr Vater kurz.
„Ich hab's gewusst. Ich hab’s dir doch gesagt.“ Freudig schlägt sie sich auf die Oberschenkel.
Während der gesamten Fahrt ist Pfiffi still, erst als sie aussteigen und Katrin zu ihrer Mutter rennt, wendet sich Pfiffi an Katrins Vater: „Wie geht es meiner Mama?“
„Mach dir keine Sorgen, sie kommt schon klar.“ Langsam streckt er die Hand nach ihr aus und will sie ihr beruhigend auf die Schulter legen, doch wie jedes Mal weicht Pfiffi sofort zurück. „Ich helfe erst mal beim Zelt.“ Ehe er sich versieht, ist sie verschwunden.
Bei der Arbeit hatte Pfiffi keine Zeit, sich über irgendetwas Gedanken zu machen, doch jetzt ist alles fertig und erst in einer Stunde beginnt der Einlass und solange hat sie Zeit. Suchend sieht sie sich nach einem ruhigen Plätzchen um, womöglich kann sie ja ein kurzes Nickerchen machen. Hinter dem Zelt stehen ein paar Kisten und auf diese steuert Pfiffi zu. Kaum hat sie sich zwischen die Kisten gesetzt, steht Katrin da und reicht ihr ein Brötchen. „Hier, du musst auch was essen.“ Wortlos nimmt Pfiffi das Brötchen und Katrin lässt sich neben ihr auf eine Kiste nieder. „Du hast Angst, vor dem, was dich erwartet, wenn du nach Hause kommst.“ Ganz leise und einfühlsam klingt Katrins Stimme. „Mein Vater sagt, dass während der drei Wochen nichts passiert ist. Deine Mama war jeden Tag in ihrem Laden. Du brauchst dir keine Sorgen machen.“ Pfiffi senkt ihren Blick und starrt auf ihr Brötchen. Was wissen die denn schon? Keiner von ihnen weiß, was wirklich los ist. Bevor Pfiffi nach Spanien gefahren ist, kam ein Brief von der Michel. Sie hat wieder einmal die Ladenmiete erhöht und dann soll ihre Mutter auch noch einen riesigen Kratzer an der Wand im Flur gemacht haben. Aus diesem Grund muss der gesamte Flur renoviert werden und das soll ihre Mutter alles bezahlen. Sie sollte deshalb bereits letzte Woche 1000 Euro überweisen und nächste Woche ist die erhöhte Miete fällig. Pfiffi hat keine Ahnung, wie sie das machen sollen. Sie hat zwar ein bisschen was in Spanien verdient und heute bekommt sie auch noch etwas, aber das reicht einfach nicht.
Einen Becher nach dem anderen füllt Pfiffi und nebenbei hört sie der Musik zu. Zum Glück ist jetzt nicht mehr so viel los, nur noch vereinzelt stehen sie bei ihnen an. Dafür hatten sie vorhin, als die Vorband spielte, einen gewaltigen Andrang. „Pfiffi, du kannst jetzt eine Pause machen. Geh doch eine Weile vor und hör dir die Musik an.“ Aufmunternd nickt Katrins Vater ihr zu. Zögernd geht Pfiffi ein paar Schritte Richtung Bühne, bleibt aber gleich wieder stehen und sieht nur von weitem zu. Das heißt, sehen kann sie nicht viel, aber sie hört die Musik und das reicht ihr schon.
Als das Konzert vorbei ist und auch ihr Zelt bereits abgebaut und verstaut ist, hält Pfiffi nach Katrin Ausschau. Den ganzen Abend hat sie Katrin nicht mehr gesehen und jetzt, wo sie los wollen, ist sie immer noch nicht wieder hier. Langsam geht Pfiffi auf das Gebäude zu. Dort sind die Garderoben und sie geht davon aus, dass Katrin dort zu finden ist. Sie hat noch nicht einmal die Tür erreicht, da kommt ihr Katrin in Begleitung von Jerry entgegen. „Ich komme schon“, ruft Katrin, dann wendet sie sich erneut Jerry zu. „Dann ist es abgemacht und ich erwarte euch morgen. Die Adresse hast du ja.“
In reichlicher Entfernung ist Pfiffi stehen geblieben und beobachtet, wie Jerry sich zu Katrin beugt und sie leidenschaftlich küsst. Nach unendlich langer Zeit lösen sich die beiden voneinander und Katrin kommt zu ihr. „Warum bist du vorhin nicht mitgekommen? Ich habe mich super mit den Jungs unterhalten.“
„Wir müssen endlich losfahren“, drängt Pfiffi.
Weit nach Mitternacht trifft Pfiffi zu Hause ein. Von der Straße her ist alles dunkel, doch als sie auf dem Hof ist, sieht sie einen matten Lichtschein aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern dringen. Sofort zieht ein Schmunzeln über ihr Gesicht. Ihre Mama hat also doch auf sie gewartet, das heißt auch, dass ihr Vater nicht zu Hause ist. Erleichtert atmet sie auf. Sobald Pfiffi die Haustür geöffnet hat, kommt bereits ihre Mutter an und zieht sie freudig in ihre Arme. „Mama, ist alles in Ordnung?“, sind die ersten Worte, die Pfiffi über ihre Lippen bringt.
Obwohl Pfiffi erst in den frühen Morgenstunden ins Bett gekommen ist, ist sie bereits beim ersten Tageslicht wieder auf den Beinen. Sie würde gern noch etwas schlafen, aber in den letzten drei Wochen ist viel liegengeblieben und das muss sie jetzt erst einmal erledigen. Als Erstes will Pfiffi ihre Sachen waschen und um zehn Uhr muss sie in der Stadt sein. Eine Stadtführung steht heute auf ihrem Plan und um fünfzehn Uhr beginnt ihre Arbeit im Biergarten bei Katrins Vater. Er hat ihr gestern bereits mitgeteilt, dass sie heute Abend noch rüber zum See soll. Dort auf dem Zeltplatz findet ein Grillfest statt und sie soll Getränke verkaufen. In Gedanken versunken nimmt Pfiffi ihre Sachen und steckt sie in die Waschmaschine. Ein leises Rascheln lässt sie aufschauen. „Du bist ja schon wieder auf.“ Ein leichter Vorwurf klingt in der Stimme ihrer Mutter mit. „Ich kann dir doch helfen.“ Hastig will sie nach dem Waschpulver greifen, doch Pfiffi kommt ihr zuvor. „Mama, ich mach das.“
„Gut, dann mache ich jetzt Frühstück.“ Gerade, als sie sich umdrehen will, ertönt eine laute Männerstimme durchs ganze Haus. „Monika, wo steckst du schon wieder und warum sind meine Sachen noch nicht fertig?“ Die Stimme wird immer lauter und dann steht Pfiffis Vater in der Tür. Unwillkürlich zuckt Pfiffi zusammen, was ihrem Vater nicht entgeht und ihn auflachen lässt. „Bist du auch wieder hier? Was stehst du da rum, hast du nichts zu tun?“, schreit er sie an, anschließend wendet er sich an seine Frau. „Ich habe dir gesagt, dass du die Sachen fertigmachen sollst und was machst du? Stehst hier rum und quatschst mit dem faulen Stück.“ Seinen stechenden Blick hat er fest auf seine Frau gerichtet. „Eine Beschwerde habe ich auch schon wieder bekommen. Du hast den Schaden bei Frau Michel immer noch nicht bezahlt, drei Wochen hattest du Zeit.“ Blitzschnell hat er sich zu Pfiffi gewandt und sie am Arm gegriffen. „Wenn du ihr nicht dauernd alles in den Arsch schieben würdest, hättest du keine Schwierigkeiten.“ Unsanft reißt er Pfiffi zu sich heran. „Du kannst ruhig ein bisschen was für deine Mutter machen und dich nicht immerzu bedienen lassen. Konntest ja drei Wochen rumgammeln, das wird sich jetzt wieder ändern.“
„Lass sie in Ruhe“, fleht Pfiffis Mutter mit zitternder Stimme. „Nein, Mama“, haucht Pfiffi leise, doch da hat sie bereits eine schallende Ohrfeige von ihrem Vater bekommen. „Sag du mir nicht, was ich tun soll“, schreit er seine Frau an und versetzt Pfiffi noch eine Ohrfeige. „Sorge lieber dafür, dass du deine Schulden bezahlst.“ Drohend holt er aus und grinst Pfiffi herablassend an, doch er überlegt es sich anders und schlägt nicht noch einmal zu, stattdessen stößt er sie von sich, sodass Pfiffi auf dem Boden landet. Ganz still bleibt Pfiffi liegen, denn sie weiß aus Erfahrung, wenn sie sich jetzt bewegt, schlägt er erneut zu. „Ich habe noch was zu tun, in einer halben Stunde will ich wieder los, so lange hast du Zeit. Jede Minute, die du länger brauchst, habe ich Zeit für die kleine Missgeburt. Also, es liegt wieder einmal an dir.“ Als er Monika ansieht, liegt ein hinterhältiges Grinsen auf seinem Gesicht, dann schaut er verachtend auf Pfiffi runter, wendet sich ab und verlässt den Raum.
Sobald er verschwunden ist, eilt Monika zu ihrer Tochter und will ihr aufhelfen. „Mama, was will er von dir?“, zaghaft wehrt Pfiffi ihre Hände ab. „Er will für zwei Tage wegfahren. Ich soll seine Sachen packen, das ist schon alles.“ Entschlossen zieht sie Pfiffi an ihre Brust. „Ich habe schon alles fertig, aber gestern konnte ich es noch nicht einpacken, dann wäre doch alles zerknittert und er würde sich darüber aufregen. Wenn ich gewusst hätte, dass er bereits so zeitig kommt, hätte ich es doch längst gemacht.“ Mit Tränen in den Augen streicht sie Pfiffi über die gerötete Wange. „Dann mach es jetzt fertig Mama, bitte“, fleht Pfiffi ihre Mutter regelrecht an. Hastig nickt diese und eilt davon und Pfiffi wendet sich wieder der Wäsche zu, als ob nichts geschehen ist, so wie jedes Mal.
Kapitel 2
Übellaunig dreht sich Alex zum Fenster und schaut hinaus. Er hat keine Lust, noch einen Urlaub von vier Wochen hier zu verbringen, aber sein Zwillingsbruder Brian hat Recht, wenn er jetzt allein nach Hause fährt, stellt seine Mom wieder unendlich viele Fragen.
„Na, was ist nun? Vier Wochen in einem kleinen verschlafenen Städtchen, ein Ferienhaus an einem See und kein Trubel um uns.“ Jerry kommt langsam näher und legt Alex die Hand auf die Schulter. „Komm, sag schon ja“, drängt er lachend, dann sieht er zu Brian rüber. „Nimmst du Angélique mit?“
„Wenn ihr nichts dagegen habt.“ Brians Blick ist auf Alex gerichtet. Alex gibt ein leises Schniefen von sich und meint: „Wenn du sie nicht mitnimmst, fährt sie uns doch sowieso hinterher, das hat sie doch bereits die letzten fünf Wochen gemacht.“
„Dann ist es also beschlossen, vier Wochen Urlaub“, freut sich Jerry.
„Nein“, ruft Alex dazwischen, „zwei Wochen reichen, länger hältst du es eh nicht mit dieser Katrin aus.“
„Okay“, schmunzelnd zuckt Jerry mit den Schultern, „da könntest du womöglich Recht haben.“
Das Ferienhaus liegt mitten im Wald, nur fünfhundert Meter von einem See entfernt. Es ist gar nicht leicht zu finden. Wenn Katrin nicht schon an der Hauptstraße auf sie gewartet hätte, wären sie glatt vorbeigefahren.
Katrins Mutter erwartet sie bereits im Haus, zeigt ihnen alles und übergibt ihnen auch die beiden Schlüssel. Das Haus ist nicht allzu groß, unten eine große Wohnküche mit Sofa und Fernseher und ein Bad und oben drei kleine Zimmer und eine Dusche. Alles sehr einfach eingerichtet, doch dafür ist die Umgebung sagenhaft. Das Haus liegt etwas höher und sie haben von der oberen Etage aus einen herrlichen Blick auf den See. Ins Haus kommt man über eine Terrasse und davor ist eine große Wiese, auf der eine Hollywoodschaukel, zwei Liegen und ein paar Stühle um einen Tisch stehen. Auf der Terrasse selbst gibt es nur eine Bank und davor steht ein kleiner, runder Tisch.
Hinter dem Haus befindet sich ein Schuppen. Dieser dient als Unterstand für zwei alte Fahrräder. „Mit denen fahre ich ganz bestimmt nicht“, macht sich Jerry lustig. „Ich werde gleich noch einen Leihwagen organisieren.“ Und schon greift er sein Handy.
Bevor Katrin zu ihrer Mutter ins Auto steigt, sagt sie noch: „Ich kann euch die Stadt zeigen und mit ein paar Leuten bekanntmachen, wenn ihr wollt, ruft mich an.“
Angélique und Brian nehmen ihre Badesachen und gehen zum See. Robby und Jerry wollen gleich mit dem Taxi in die Stadt und den Leihwagen abholen. Alex will die Zeit nutzen und den neuen Text überarbeiten, irgendetwas stimmt da noch nicht.
Langsam wird es dunkel und die anderen sind noch nicht zurück. Von draußen dringt ein herrlicher Duft ins Haus und Alex hält es drinnen nicht mehr aus. Neugierig, woher der Duft kommt, geht er den schmalen Weg zum See entlang. Kaum ist er aus dem Wald getreten, sieht er bereits den Zeltplatz. Eine Gruppe Jugendlicher scheinen eine Party zu feiern und unter ihnen entdeckte er schließlich auch seinen Bruder, der dicht bei einem Grill steht. Sobald Brian ihn sieht, winkt er ihn heran. Na ja, eigentlich will Alex sich gleich wieder aus dem Staub machen, doch er hat ein wenig Hunger und es sieht alles sehr verlockend aus. Brian nutzt die Gelegenheit und macht ihn rasch mit ein paar Leuten bekannt. Zu seinem großen Erstaunen ist da auch schon wieder das Wesen vom Flughafen. Es steht neben einem Tisch auf der anderen Seite vom Grill und hantiert mit Getränkeflaschen. Auch Robby und Jerry, der fleißig mit Katrin beschäftigt ist, sind hier. Es ist ein recht amüsanter Haufen, alle haben ihren Spaß. Es wird viel gelacht und die dümmsten Späße gemacht und es ist eindeutig zu erkennen, dass das Wesen vom Flughafen nicht zu Späßen aufgelegt ist. Denn einige der Jungs versuchen, es immer wieder aus der Reserve zu locken. Alex macht sich einen Spaß daraus, sie zu beobachten. Allerdings kann er immer noch nicht sagen, ob es sich um ein männliches oder weibliches Wesen handelt.
Nach einer guten Stunde ist er zu dem Schluss gekommen, dass es nur männlich sein kann, denn es ist schlagfertig und bleibt keinem eine Antwort schuldig.
Der größte Tumult spielt sich um den Grill ab. Damit er einen besseren Blick hat, versucht Alex auf die andere Seite zu kommen, allerdings wird er ständig von irgendwelchen Leuten angesprochen und aufgehalten. Endlich hat er es geschafft, kann jetzt jedoch den Knirps nirgends sehen.
„He, willst du hier Maulaffen feilhalten oder gehst du zur Seite und lässt Menschen, die arbeiten müssen, vorbei.“ Ehe er sich versieht, hat er bereits einen Ellenbogen in den Rippen und der Knirps drängte sich mit drei Getränkekästen vorbei.
„He Pfiffi, quatsch nicht so viel, gib mir lieber noch ’ne Cola.“
„Halt die Klappe“, gibt der Knirps von sich und begibt sich hinter den Tisch. Erst als die Kisten an ihrem Platz stehen und einige Flaschen auf dem Tisch aufgereiht sind, wendet sich Pfiffi um, schiebt einen kleinen Teller nach vorn und beginnt die Getränke zu verkaufen. Es geht wie von selbst. Jeder der etwas haben möchte, nimmt sich eine Flasche und legt das Geld auf den Teller.
Nach einer Weile bückt sich der Knirps, um neue Flaschen auf den Tisch zu räumen, dabei fällt sein Basecap vom Kopf. Alex, der sich eben eine Flasche nahm, trifft fast der Schlag. Es ist ein Mädchen. Wie angewurzelt steht er da und starrt sie an. Lange, dunkelblonde Haare sind unter dem Basecap gewesen und ein langer, schwerer Zopf fällt ihr jetzt über den Rücken bis zur Taille. Tiefbraune, fast schon schwarze Augen funkelten ihn an. „Vergiss nicht zu bezahlen.“ Als Alex seinen Anteil auf den Teller gelegt hat, leert sie diesen mit einer raschen Bewegung. Ruckzuck verschwindet das Geld in einer Kassette.
Neben ihrem kleinen Tisch steht ein Hocker, auf dem sich ein paar Steine befinden, nicht große und schöne, eher kleine unscheinbare. Sie sind vollkommen glatt geschliffen und stammen aus dem See. Alex konnte vorhin viele solcher Steine sehen und findet nichts Besonderes an ihnen. Warum also sollte jemand sie sammeln?
„He Alex, Katrin hat uns morgen zu einem Stadtbummel eingeladen und anschließend geht’s noch zu ’ner Party.“ Jerry dreht sich um und greift sich eine Flasche. Katrin stößt ihn sanft an und sagt, dass er nicht zu geizig sein soll. Was zur Folge hat, dass er einen Schein auf den Teller legt und dem Knirps leicht zunickt. Pfiffi zieht die Augenbrauen hoch: „Wow! Besten Dank!“ Fix ist das Geld in ihrer Tasche verschwunden.
Katrin und Jerry verschwinden erneut in der Menge und Alex lässt seinen Blick über den Platz schweifen, doch immer wieder bleibt er bei Pfiffi hängen.
Während sich alle unterhalten und Pfiffi die leeren Flaschen einsammelt, tritt einer an den Tisch und nimmt sich eine Cola. Pfiffi hat es genau beobachtet und ihr entgeht nicht, dass er nicht bezahlt hat. Ein kurzer Pfiff ertönt. Doch er geht einfach weiter. „Du hast was vergessen“, ruft Pfiffi ihm hinter her. „Das war Nummer zwei“, sagt sie wie zu sich selbst, greift sich einen von den Steinen und wirft. Sie trifft genau zwischen seine Schulterblätter. Er fährt herum und kommt wütend auf sie zu. „Was fällt dir kleine Schlampe ein?“, brüllt er sie an. Alex sieht sich veranlasst, ihr beizustehen und will schlichten, schließlich ist sie ja nur ein Mädchen. „Wenn du bezahlst, ist alles vergessen und sie entschuldigt sich.“
„Nichts ist vergessen und ich werde mich nicht entschuldigen.“ Schon gehen die beiden aufeinander los. Noch eh der Typ sich versieht, schlägt Pfiffi ihm das Bein weg, sodass er auf dem Rücken landet. Blitzschnell ist Pfiffi auf ihm und drückt ihr Knie in seine Kehle. Ohne mit der Wimper zu zucken, zieht sie ihm das Geld aus seiner Tasche, nimmt ihren Anteil, schiebt den Rest zurück und steht ganz langsam auf. „Verschwinde und komm nie wieder!“ Kaum ist er verschwunden, fährt sie herum. „Misch dich nie wieder in meine Angelegenheiten und merk dir eins, ich entschuldige mich nie!“
„Ich wollte dir nur helfen.“
„Ich brauche keine Hilfe und von dir erst recht nicht.“ Damit dreht sie sich um und geht wieder an ihre Arbeit. Verwirrt starrt Alex ihr hinterher, er wollte nur helfen und wird angeschnauzt. Er hat die Nase voll und so macht er sich auf den Weg zum Haus.
Bereits unten in der Küche hört er, dass Jerry und Katrin intensiv miteinander beschäftigt sind und das will er sich nicht noch länger anhören. Aber zurück will er auch nicht, bleibt also nur der See. Ein kleiner Spaziergang kann ja nicht schaden.
Ein Stück des Weges stehen die Bäume bis dicht ans Wasser und man sitzt wie in einer Nische und kann den See beobachten. Alex will den Anblick eine Weile genießen und macht es sich bequem.
Von weitem hört er Schritte und Stimmen. Er kann nichts verstehen denn sie sind zu weit entfernt, doch mit jedem Augenblick werden sie deutlicher.
„Pfiffi, lass den Quatsch. Du machst so lange, bis noch mal was passiert.“ Das ist eindeutig eine männliche Stimme.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dicht ich dran war. Ich habe es fast geschafft und da soll ich aufhören. Das kann ich nicht!“
Die männliche Stimme klingt besorgt. „Denk doch auch mal an uns. Was ist, wenn sie rausbekommt, dass wir dir helfen? Und dann glaubt auch keiner, dass du es schaffst.“ Es folgte ein kurzes Schweigen.
„Ich habe gesagt, dass ich es schaffe und das werde ich auch. Ich werde diesen Wettkampf gewinnen.“ Sie klingt entschlossen, doch ihr Begleiter scheint so seine Zweifel zu haben. „Der Wettkampf ist bereits übermorgen, du hast keine Zeit mehr, also vergiss ihn. Aber unser Vorschlag steht noch, wir haben sogar jemand, der die gesamte Summe auf einmal zahlt. Es ist nur einmal und du hast das Geld, überleg es dir!“ In Alex Ohren klingen diese Worte wie eine leise Drohung.
„Niemals! Verschwinde einfach.“ Sie sagt es ganz ruhig, aber doch mit Bestimmtheit.
„Überleg es dir noch einmal, die Chance kommt so schnell nicht wieder.“ Mit diesen Worten entfernt sich die männliche Stimme.
Alex lauscht, ob sich auch Pfiffi entfernen würde, doch er kann überhaupt nichts hören. Nachdem er eine Weile gewartet hat, will er sein ‚Versteck‘ verlassen. Allerdings vernimmt er bereits nach wenigen Schritten ein Rascheln und dann sieht er sie auch schon. „Was machst du denn hier? Hat man vor euch Touristen denn nie seine Ruhe“, fährt sie ihn schroff an, dreht sich um und will schon wieder verschwinden.
„Kannst ruhig bleiben, ich wollte gerade gehen. Für heute habe ich genug gehört.“ Er weiß selbst nicht, warum er das sagte, aber nun war es geschehen. Langsam und drohend kommt sie auf ihn zu. „Vergiss ganz schnell was du gehört hast, sonst muss ich nachhelfen.“ Ihre Augen richtet sie genau auf seine. Unbeirrt hält er ihrem Blick stand, das schafften bisher noch nicht viele und sie hat etwas Achtung vor ihm, doch im nächsten Augenblick zerstört er alles. „Hab dich doch nicht so. Setz einfach den Preis höher und dann mach, was dein Freund vorschlägt.“ Abwertend lässt er seinen Blick über ihre Gestalt schweifen. „Für Geld macht ihr Weiber doch eh alles.“ Ehe er sich versieht, hat er ihre Faust voll auf der Nase und ein Geräusch sagt ihm, dass sie gebrochen ist. Drohend und voller Zorn steht Pfiffi vor ihm. „Geh mir in Zukunft aus dem Weg, sonst passiert Schlimmeres.“ Noch ein kurzer drohender Blick, dann dreht sie sich um und verschwindet.
Vollkommen benommen kehrt Alex zum Ferienhaus zurück. Alles ist still und er entschließt sich, unten auf dem Sofa zu schlafen. Doch zuerst muss er sich um seine Nase kümmern, die immer noch kräftig blutet. Also geht er erst einmal ins Bad, um sich das Blut abzuwaschen.
„Was ist denn mit dir passiert?“, erklingt die besorgte Stimme seines Bruders hinter ihm. Alex ist immer noch perplex, er hat noch nie ein Mädchen so zuhauen sehen und erst die Kraft, die sie hat. Alex schüttelt nur benommen den Kopf während Brian ihn auf den Hocker, der am Fenster steht, drückt. Vorsichtig betastet er die Nase. „Ich glaube, die ist gebrochen.“
„Das weiß ich auch schon.“ Alex will seinen Bruder beiseiteschieben, doch Brian grinst ihn nur belustigt an. „Halt still, sonst erzähle ich es Mom.“ Er weiß ganz genau, dass Alex sich nie in eine Schlägerei ohne triftigen Grund einlassen würde, also fragt er vorsichtig nach. „Warum hast du dich mit ’ner ganzen Fußballmannschaft geprügelt?“ Es sollte eigentlich lustig klingen, aber seine Sorge lässt sich nicht verbergen.
Es ist ganz schön peinlich, von einem Mädchen die Nase gebrochen zu bekommen, aber Alex weiß, dass es Brian niemals weitererzählen wird und so macht er sich Luft. Er hat reichlich Schimpfnamen für sie gefunden, bei einigen wird sogar Brian rot.
Nachdem die Nase versorgt ist und auch ausgiebig geflucht wurde, geht Brian wieder hoch zu Angélique und Alex legt sich aufs Sofa schlafen.
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