Liebe mich
wenn du dich traust
Kapitel 1
Kylie geht voll auf die Bremse. Sobald das Auto steht, springt sie raus und rennt quer über die Wiese auf Egon zu. Schon von weitem Egon starrt sie an. „Was soll daran fantastisch sein? Die sehen aus wie Idioten und ihre Musik ist auch nicht besser. Und außerdem kann ich zurzeit gar nicht weg, wir haben viel zu viel zu tun.“ Kylie winkt genervt ab. Sie weiß genau, dass Egon wieder mal nur eine Ausrede sucht. „Das stimmt nicht. Ich hab bereits mit deiner Mutter gesprochen und sie sagt, dass du ruhig mitfahren kannst. Außerdem bist du bis zur Ernte wieder hier.“ Egon sieht Kylie von der Seite an und streicht ihrem Pferd noch einmal über den Hals, dann schickt sie es zurück zu den anderen. Ihr Blick ist immer noch auf das Pferd gerichtet, während sie zu Kylie sagt: „Ich habe trotzdem keine Zeit. Ab Oktober bin ich weg und bis dahin muss ich noch einiges erledigen.“
Aufgebracht sieht Kylie ihre Freundin an. „Das ist schon wieder eine Ausrede. Seitdem du den Wettbewerb gewonnen hast, hast du deinen Studienplatz und auch dein Stipendium sicher, also was willst du noch erledigen? Du hast versprochen mitzukommen, jetzt halte dein Versprechen auch.“ Langsam dreht Egon ihren Kopf zu Kylie und sieht sie eindringlich an. „Ich muss mich aber noch um eine Unterbringung kümmern.“
Jetzt muss Kylie lachen. „Du lässt auch nichts aus. Hast du vergessen, dass ich dabei war, als du einen Antrag auf einen Wohnheimplatz gestellt hast. Sie haben gesagt, dass du erst im September Bescheid bekommst und bis dahin sind es noch zwei Monate. Schluss mit den Ausreden! Du kommst mit!“
Egon zieht die Stirn kraus. „Was soll ich da? Die können mich eh nicht leiden.“
Aufgeregt schüttelt Kylie den Kopf. „Doch, sie können dich leiden. Da geh ich jede Wette ein.“
Ein spitzbübisches Grinsen zieht sich über Egons Gesicht. „Die Wette nehme ich an. Wenn ich gewinne, was bekomm ich?“ Kylie starrt sie nur an, was Egon laut auflachen lässt. „Also wenn ich gewinne, lässt du mich in Zukunft mit deiner Band in Ruhe und ich brauche mir ihre dämliche Musik auch nicht mehr anhören. Und wenn du gewinnen solltest, mache ich, was du willst.“
Schelmisch grinst Kylie zurück. „Du machst dann, was ich will, egal was? Okay, ich werde mir was ausdenken.“ Kylie weiß, dass Egon für Dummheiten immer zu haben ist und sie hat meistens auch die blödesten Einfälle. Egal, was Kylie verlangen wird, Egon wird es auch machen, vorausgesetzt Kylie gewinnt die Wette.
Kylie streckt ihr die Hand hin. „Abgemacht, und du kommst mit.“ Egon zögert einen Moment. „Du sagst mir aber noch, bevor wir losfahren, was du von mir willst.“ Entschlossen greift sie Kylies Hand. Beide Mädchen grinsen sich an und in ihren Augen blitzt es verdächtig auf.
Kaum macht Egon die Haustür auf, kommt ihr auch schon Frank entgegen. „Da bist du ja endlich. Ich komme mit meinen Hausaufgaben nicht klar. Unser Lehrer hatte heut schlechte Laune und da hat er sich was ganz Gemeines ausgedacht.“
Egon grinst ihren neunjährigen Bruder an. „Was hast du schon wieder angestellt?“ Verlegen senkt er den Kopf. „Die Türklinke von unserem Klassenraum war locker, ich wollte sie nur festmachen. Ich kann gar nichts dafür.“ Das sieht ihm mal wieder ähnlich. Nur mit Mühe kann Egon sich ein Lachen verkneifen. „Ich will genau wissen, was los war.“
Frank sieht sie eindringlich an. „Versprich mir, dass du nichts Mama sagst.“ Während Egon nickt, breitet sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. „Also die Klinke war schon etwas locker und ich habe noch ein bisschen nachgeholfen und als Herr Lehmann aufmachen wollte, hatte er sie in der Hand. Es hat eine halbe Stunde gedauert, bis sie die Tür aufbekommen haben und unser Unterricht war vorbei. Doch leider hat Herr Lehmann gesagt, ich soll zu morgen einen Vortrag über das Thema, das wir behandeln wollten, ausarbeiten. Er will ihn sogar benoten. Du musst mir unbedingt helfen.“
Egon hat bereits das Blatt in der Hand und liest sich die Aufgabe durch. Sie schaut auf ihre Uhr. Schon so spät, sie muss gleich los und Theresa aus dem Kindergarten abholen. Schnell rennt sie hoch in ihr Zimmer, welches sie sich mit Theresa teilt, und sucht aus ihren Unterlagen etwas raus. Kaum wieder unten in der Küche, legt sie die Blätter auf den Tisch und nimmt sich einen Stift aus Franks Tasche. Rasch hat sie einige Stellen markiert. „So, das schreibst du dir jetzt sauber ab. Das sind sie wichtigsten Fakten. Wir sprechen das aber noch mal durch, wenn ich Theresa abgeholt habe.“ Frank nickt nur, denn er weiß genau, dass Egon dafür keine Zeit haben wird und er hat ein Haufen Arbeit gespart.
Sobald Egon mit Theresa wieder da ist, kommt auch schon Jörg an. „Egon, du musst mir mal den Splitter rausmachen. Papa fährt gleich Mama abholen und ich muss noch die Kühe reintreiben.“ Erschrocken sieht Egon auf die Uhr. Was, bereits so spät, und sie hat noch nicht einmal mit dem Essenmachen angefangen.
Mit Nadel und Pinzette bewaffnet geht sie zu Jörg rüber, um den Splitter rauszuholen. Fast jeden Tag kommt Jörg mit irgendwelchen Verletzungen zu ihr. Entweder hat er sich mal wieder in der Schule geprügelt oder er hat sich bei der Arbeit verletzt. Er hat einfach zwei linke Hände, sagt ihr Vater immer. Obwohl er bereits fünfzehn ist, schafft er es nicht, einen Tag ohne Schrammen und Beulen zu überstehen.
Kaum hat Egon den Splitter raus, springt er auch schon wieder auf und geht. Inzwischen ist Frank mit seinen Hausaufgaben fertig und räumt seine Sachen zusammen. Kurz lässt Egon den Blick über ihn schweifen. „Wir gehen das nachher durch, jetzt passt du erst mal auf Theresa auf, während ich mich ums Essen kümmere.“
Theresa sieht sie erwartungsvoll an. „Gibt es heute Pudding?“ Egon sieht liebevoll auf die Vierjährige runter. Wenn Theresa sie mit ihren großen blauen Augen ansieht, kann sie einfach nicht Nein sagen. Langsam nickt Egon. „Gut, ich mach dir welchen.“ Egon muss sich beeilen, um alles fertigzubekommen, aber sie schafft es. Genau in dem Moment, wo ihre Mutter das Haus betritt, ist das Essen fertig und der Tisch gedeckt.
Es ist bei ihnen üblich, dass sie alle zusammen zu Abend essen, denn das ist die einzige Zeit, die sie gemeinsam verbringen können. Auf dem kleinen Bauernhof gibt es immer eine Menge Arbeit und da muss jeder mit anfassen. Auch der Gemüsestand auf dem Markt, ihre größte Einnahmequelle, muss abgesichert sein. Ihre Mutter steht von früh bis abends dort und verkauft Obst und Gemüse aus eigenem Anbau. An den Wochenenden hat ihr Vater dann auch hin und wieder Kremserfahrten und ab und zu kommt auch mal jemand zum Reiten. Aber das ist alles nicht viel. Da sie auf jeden Cent angewiesen sind, können sie nicht mal eine Aushilfe in der Erntezeit einstellen. Egon macht sich jetzt schon Gedanken, wie es wird, wenn sie zum Studium geht. Sie hat Angst, dass es ihre Eltern nicht schaffen, schließlich fehlt dann eine ganze Arbeitskraft.
Nach dem Essen räumen sie gemeinsam den Tisch ab und nebenbei unterhalten sie sich noch über alles Mögliche.
Frau Olsen sieht ihre Tochter von der Seite an. „Rudolfine, willst du nicht deine Sachen packen?“ Egon sieht ihre Mutter eindringlich an. „Mama, kannst du mich nicht Egon nennen, so wie alle anderen auch? Und wieso soll ich packen?“ Ihre Mutter sieht schmunzelnd zu ihr rüber. „Du hast deinen Namen nach deinem Vater bekommen und er heißt nun einmal Rudolf, und außerdem weißt du genau, dass ich dich nur Rudolfine rufe, wenn es wichtig ist.“ Ihr Blick schweift von ihrer Tochter zu ihrem Mann. Er sieht seine älteste Tochter schulterzuckend an. „Ich weiß gar nicht, was du gegen den Namen hast.“
Egons Blick ist fest auf ihren Vater gerichtet. „Gegen Rudolf hätte ich ja auch nichts, aber das ‚fine’ stört mich gewaltig. Warum kannst du nicht Egon heißen? Dann hätten wir beide kein Problem.“
Ihr Vater muss lachen. „Auf meine alten Tage lass ich mich nicht mehr umtaufen.“ Jetzt mischt sich auch Jörg ein: „Egon gefällt dir doch nur wegen der Olsenbande und weil du genauso viel Scheiße im Kopf hast wie Egon Olsen.“
„Hab ich gar nicht.“ Und schon nimmt sie einen klitschnassen Schwamm und steckt ihn ihrem Bruder in den Hemdkragen. Schreiend springt Jörg auf und will nach Egon greifen, doch sie ist viel zu schnell und wendig. Eh er sich versieht, hat sie ihm auch noch auf den nassen Schwamm gehauen, sodass ihm jetzt das ganze Wasser den Rücken lang runterläuft. Fluchend zieht er sich das Hemd aus und schmeißt es vor Egons Füße. „Jetzt kannst du es auch waschen.“ Mit Unschuldsmiene sieht sie ihn an. „Ich habe leider keine Zeit. Mama sagt, ich muss packen.“ Mit dem Fuß schiebt sie das Hemd zu ihm zurück und dreht sich zu ihrer Mutter. „Du hast mir noch nicht gesagt, warum ich packen soll.“
Ein Lächeln zieht über das Gesicht ihrer Mutter, als sie ihren Blick musternd über ihre Tochter gleiten lässt. „War Kylie heute nicht hier?“ Misstrauisch geworden nickt Egon langsam und beobachtet ihre Mutter genau. „Na dann wird sie dir doch auch gesagt haben, dass ihr morgen Nachmittag losfahrt.“ Egon reißt die Augen auf. „Was, morgen schon?!“ Bei dem entsetzten Gesichtsausdruck ihrer Tochter muss sie unwillkürlich lachen.
Blitzschnell dreht sich Egon um und verschwindet in ihr Zimmer, um ein paar Sachen zusammenzusuchen. Vier Wochen sind sie unterwegs, wo soll sie nur so viel Sachen hernehmen? Geschwind geht sie zu ihren Brüdern rüber und schaut in deren Schrank nach.
Als Jörg reinkommt, hat sie gerade seine Jeans und zwei von seinen T-Shirts in den Händen. Erstaunt sieht er sie an. „Was willst du damit?“ Sie sieht ihn verständnislos an. „Ist doch klar, was ich damit will. Ich nehm´ die Sachen mit und werde sie anziehen.“ Lachend schüttelt er den Kopf. „Die sind dir doch viel zu groß. Du bist schon der perfekte Lacher, wenn du in meinen Sachen zur Schule gehst, aber bei solchen Typen kannste nicht so rumrennen.“ Sie sieht ihn verächtlich an. „Und ob ich das kann.“ Rasch nimmt sie sich noch ein paar von seinen Socken. Jörg hält sich denn Bauch vor Lachen. „Willste vielleicht auch noch ein paar Boxershorts von mir haben?“ Egon überlegt einen kleinen Moment, dann nickt sie mit einem strahlenden Lächeln.
Als Jörg ihr die Boxershorts reicht, sieht er sie eindringlich an. „Du hast schon wieder was ausgeheckt. Wen willst du diesmal verarschen?“ Egon versucht ein ernstes Gesicht zu machen, doch das hält sie nicht durch und prustet los vor Lachen. „Ich habe mit Kylie gewettet. Das werden bestimmt die lustigsten vier Wochen meines Lebens.“ Verständnislos sieht Jörg sie an und schnell erzählt Egon ihm alles.
Lachend meint er zu Egon: „Kylie muss doch klar sein, dass sie die Wette niemals gewinnen kann. Man kann dich ja so schon kaum ertragen, wenn du es dann auch noch drauf anlegst, erst recht nicht.“ Grimassenziehend steckt Egon ihm die Zunge raus und verschwindet. „Am besten, du nimmst auch noch das Base Cap, das du immer zum Ausmisten aufhast, mit“, ruft Jörg ihr noch hinterher.
Nachdem Egon alles in einer großen Reisetasche verstaut hat, setzt sie sich an ihr Klavier und spielt einige ihrer Lieblingsstücke von Mozart.
Erschrocken fährt Egon zusammen, als sie die Hand auf ihrer Schulter spürt. Schmunzelnd sieht ihre Mutter sie an. „Wenn du spielst, vergisst du wirklich alles um dich herum, aber jetzt ist Schluss. Du musst morgen früh Theresa in den Kindergarten bringen. Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du auch noch Frank und Jörg zur Schule fahren. Papa fährt dich dann am Nachmittag zu Kylie.“ Egon lässt die Hände sinken und sieht ihre Mutter eindringlich an. „Mama, es ist doch viel zu viel zu tun, das Beste ist, ich bleibe hier. Kylie kann auch allein fahren.“ Lachend schüttelt ihre Mutter den Kopf. „Kommt überhaupt nicht infrage. Du fährst mit! Ab Oktober müssen wir auch ohne dich zurechtkommen und glaub mir, wir schaffen das schon.“ Egon holt bereits tief Luft und will loslegen: „Ja aber,…“, doch ihre Mutter lässt sie gar nicht erst zu Wort kommen. „Nichts ja aber. Noch eine Woche und dann haben die Jungs Ferien und können helfen. Du sollst dich noch mal vor deinem Studium erholen und etwas erleben. Also genieß die Zeit.“ Damit ist es für ihre Mutter erledigt. Sie wartet noch, bis Egon vom Klavier aufgestanden ist und gemeinsam gehen sie nach oben.
Möchtest du wissen wie es weitergeht? Hier erfährst du mehr.